Nachgefragt #2: Warum unterstützt uns niemand beim Coping?

Neben Pacing wird ME/CFS-Betroffenen auch Coping immer wieder empfohlen. Doch was ist das? Und: Sind wir Betroffenen auch hierbei auf uns alleine gestellt oder findet man „Jemanden, der sich damit auskennt“? Ich habe mich auf die Suche nach Antworten gemacht. Dabei habe ich bei amerikanischen Organisationen Coping Strategien gefunden und bei deutschen Psychotherapie-Verbänden nach deren Wissenstand zu Coping bei ME/CFS nachgefragt.
Gibt man den Begriff „Coping“ in die Suchmaschine ein, definiert ihn Wikipedia so: „Die Begriffe Bewältigungsstrategie, Copingstrategie oder Coping (von englisch to cope with, „bewältigen, überwinden“) bezeichnen die Art des Umgangs mit einem als bedeutsam und schwierig empfundenen Lebensereignis oder einer Lebensphase.“ Klingt also nach etwas, was man mit einer schweren neuroimmunologischen Erkrankung wie ME/CFS durchaus als Unterstützung gebrauchen könnte. Doch – wen wundert es – es gibt auch in der Psychotherapie-Landschaft wohl nur sehr wenige Therapeuten, die sich mit dieser Erkrankung auskennen und für Betroffene entsprechende Coping-Strategien anbieten.
Ignoranz zieht sich durch wie ein roter Faden
Mein Eindruck ist, dass auch die Bereitschaft sich dahingehend weiterzubilden nicht gerade hoch ist. Vor einiger Zeit habe ich bei mehreren Psychologinnen nach Therapieangeboten für mich gefragt. Doch sobald ich darauf hingewiesen habe, dass es um Coping bei ME/CFS geht, war niemand bereit, mit mir zu arbeiten. Selbst eine Psycho-Onkologin wusste nichts mit mir und dieser Erkrankung anzufangen. Sie sagte: „Wenn Sie Krebs hätten, würde ich mit Ihnen arbeiten, denn da weiß ich, dass er irgendwann weg ist. Aber Ihre Krankheit bleibt ja für immer. Da habe ich ja gar kein Konzept und es ist mir auch zu anstrengend eines zu erarbeiten.“ Immerhin kannte sie ME/CFS, das war bei den anderen Angefragten nicht der Fall. Trotzdem waren die Antworten ähnlich und bestärkten mein Gefühl, dass sich die seit Jahrzehnten bestehende Ignoranz dieser Erkrankung wie ein roter Faden durch alle Aspekte durchzieht. Aber vielleicht war das auch nur, weil meine Anfrage an einige wenige Therapeutinnen ging und örtlich begrenzt war? Also habe ich die Psychotherapeuten-Verbände angeschrieben und einmal dort nachgefragt, ob sie zu ME/CFS weitergebildet werden, ob alle therapeutisch arbeitenden Mitglieder im Bereich Coping ausgebildet sind und wo Betroffene diese finden können.
Es gab einen Lichtblick
Inzwischen ist ein halbes Jahr vergangen und bis heute habe ich nur eine einzige Antwort erhalten: Schon wenige Tage nach der Anfrage hat der Vorsitzende des Verbandes der freien Psychotherapeuten (VfP), Dr. Werner Weishaupt, geantwortet. Er räumte ein, dass es seiner Einschätzung nach unter den 12.000 Verbands-Mitgliedern „nur sehr wenige Kolleg*innen gibt, die sich mit diesem Krankheitsbild auskennen und dementsprechend ein Coping für Betroffene anbieten können.“
Im Gegensatz zu den Verbänden, die nicht geantwortet haben, war aber hier das Interesse daran etwas über ME/CFS zu lernen und dieses Wissen auch den Mitgliedern zu vermitteln sehr groß. Und so durfte ich im Februar einen Artikel verfassen, in dem ich beschreibe, was ME/CFS ist, was die Erkrankung für mich und mein Leben bedeutet und welche Coping-Strategien möglich sind. Dieser Artikel wurde vor wenigen Tagen in der Verbands-Zeitschrift des VfP veröffentlicht (Neben dem Link gibt es auch ein PDF am Ende des Beitrags).
Neues Psychotherapie-Netzwerk ME/CFS
Einige Wochen nach meinen Anfragen habe ich gelesen, dass die Heidelberger Psychologin Bettina Grande das „Psychotherapie-Netzwerk ME/CFS“ ins Leben gerufen hat. Damit will sie ihrem therapeutischen Umfeld das Thema ME/CFS näherbringen und eine PEM-orientierte Psychotherapie etablieren.
Ich habe sie gefragt, wie diese in ihren Augen aussehen könnte und wie schnell sie sich umsetzen ließe. Und ich wollte wissen, welche Eckpfeiler eine auf Coping ausgerichtete Therapie bei ME/CFS hat. Aber auch der Unterschied zwischen einer Coping-orientierten Therapie von Onkologie-Patienten und der von ME/CFS-Patienten hat mich interessiert – wenn es denn einen gibt. Doch leider konnte mir die Psychologin aus Zeitgründen keine individuellen Fragen zu ihrem Netzwerk beantworten.
Wie immer müssen wir uns selbst helfen
Und was machen Betroffene nun, bis sich das Wissen um diese Erkrankung und Coping bei ME/CFS flächendeckend unter den Therapeuten verbreitet hat? Wahrscheinlich dasselbe wie immer: Wir müssen uns selbst helfen. Doch wie könnte das gehen? Angelehnt an die Herangehensweise der American Myalgic Encephalomyelitis and Chronic Fatigue Syndrome Society (AMMES) und dem ME/CFS & Fibromyalgia Self-Help Program, könnten dies erste Schritte sein:
Anfangs ist es wohl der entscheidende und wichtigste Punkt zu akzeptieren, dass man diese Erkrankung hat. Anzuerkennen, dass ME/CFS Limitierungen mit sich bringt und Betroffene nur eine Chance haben, indem sie Pacing lernen und anwenden. Das heißt zunächst, den Energieverbrauch einzelner Aktivitäten einschätzen zu lernen, die individuelle Baseline zu ermitteln sowie die individuellen Warnsignale auf kognitiver, physischer und emotionaler Ebene herauszufinden. Da es aber noch eine ganze Menge mehr an Coping-Strategien gibt, werde ich unter dem Motto „Coping und…“ eine ganze Beitrags-Reihe dazu machen. Nächste Woche wird der erste Teil dann das Thema Coping und Akzeptanz näher beleuchten.
Schritte in die richtige Richtung
Natürlich kann man all diese Coping-Strategien auch Stück für Stück alleine umsetzen. Aber genau hier wäre in meinen Augen die Unterstützung von kompetenten Therapeuten, die sich mit Coping für ME/CFS auskennen, wichtig und hilfreich. Allerdings müsste das Setting den Bedürfnissen von ME/CFS-Betroffenen angepasst werden. Für mich, genau wie für viele andere, wäre nämlich schon alleine die Hin- und Rückfahrt so anstrengend, dass für ein Gespräch nur noch sehr wenig Ressourcen übrigbleiben würden. Auch die übliche Stunde Gespräch würde ich - wenn überhaupt - nur mit einer oder mehreren Pausen schaffen. In meinen Augen die perfekte Lösung: Ein flexibles Online-Therapieangebot, das auf die individuelle Tagesform der Patienten eingeht und Therapeuten, die sich mit allen Facetten von ME/CFS auskennen. Die Mut machen, trotzdem diese Erkrankung noch immer als unheilbar gilt und die dabei helfen den Umgang damit ein bisschen erträglicher zu machen.
Doch das ist wohl derzeit noch ein Wunschtraum: Insgesamt gibt es schon zu wenige Therapeuten und bis sich Coping für ME/CFS und die PEM-orientierte Psychotherapie etabliert haben wird wahrscheinlich noch sehr viel Zeit ins Land gehen. Doch die ersten Schritte in die richtige Richtung sind gemacht und das ist besser als komplette Ignoranz.
Wie ist das bei Euch? Wünscht Ihr Euch fachkundige Begleitung beim Coping oder habt sogar schon jemanden gefunden? Oder helft Ihr Euch selbst?
Ihr möchtet den Post kommentieren? Die Kommentarfunktion ist nur im Mitgliederbereich freigeschaltet. Über den Button „Subscribe“ könnt Ihr Euch dort registrieren und bekommt eine Nachricht bei neuen Posts. Über den Button „Sign in“ meldet Ihr Euch im Mitgliederbereich an und könnt kommentieren und liken. Ich freue mich auf Eure Kommentare!