Schule darf nicht krank machen – ME/CFS betroffene Kinder brauchen Flexibilität statt Zweifel
Wenn Schule krank macht, läuft etwas schief, besonders für Kinder mit ME/CFS. Sie kämpfen nicht nur mit ihrer Erkrankung, sondern auch mit einem Schulsystem, das kaum vorbereitet ist. Fehlendes Wissen, Druck und Missverständnisse erschweren ihren Alltag zusätzlich.
Natascha Kunert-Möller kennt beide Seiten: Sie war Lehrerin und Schulleiterin, bevor sie selbst an ME/CFS erkrankte. Heute setzt sie sich mit viel Erfahrung und Herz dafür ein, dass betroffene Kinder gesehen, verstanden und unterstützt werden. In unserem Interview erzählt sie, was sich ändern muss, damit Schule nicht zusätzlich krank macht.
Tanja: Was hat Dich dazu bewegt, Dich so intensiv für ME/CFS-Betroffene im Schulkontext einzusetzen?
Natascha Kunert-Möller: Ich bin selbst an ME/CFS erkrankt und komme aus dem System Schule. Zuerst war ich Lehrerin, dann Schulleiterin und später habe ich andere Schulleiter fortgebildet. Als ich erkrankte, sah ich, wie wenig Antworten Schule auf Fatigue und PEM hat. Mir wurde klar: Wenn das für mich als Erwachsene schon existenzerschütternd ist – wie ist es dann für 9-, 13- oder 15-Jährige?
Tanja: Was bedeutet das konkret für betroffene Kinder und ihre Familien?
Natascha Kunert-Möller: Wenn Kinder und Jugendliche an ME/CFS erkranken, stehen Familien vor großen Herausforderungen. Sie müssen den Alltag mit einer schweren, oft unsichtbaren Krankheit bewältigen und zudem an vielen Fronten für eine der schweren Erkrankung angepasste Schulumgebung kämpfen. Ich möchte Brücken bauen zwischen Familien und Schule: Nicht als Anklage, sondern in Form von Verständnis, Wissen und mit dem Fokus auf Lösungen.

Tanja: Was sind die größten Missverständnisse und Herausforderungen, mit denen Kinder und Jugendliche mit ME/CFS in der Schule konfrontiert sind?
Natascha Kunert-Möller: Schaffen es die Kinder und Jugendlichen in Präsenz am Unterricht teilzunehmen, wird dies oft mit Teilhabe und uneingeschränkter Leistungsfähigkeit gleichgesetzt. Bei ME/CFS passt das aber häufig überhaupt nicht. Zeigen die Kinder dann Symptome einer Überlastung, werden diese viel zu oft fälschlich pubertärem „Unwillen“ zugeschrieben.
Tanja: Warum ist es so schwer, dass die Erkrankung als solche erkannt und ernst genommen wird?
Natascha Kunert-Möller: Um zu „beweisen“, dass dem nicht so ist, sondern im Gegenteil eine schwere Erkrankung vorliegt, bräuchte es ärztliche Unterlagen. Und die sind schwer zu bekommen oder werden angezweifelt. Zudem sind Lehrkräfte überlastet und auch unsicher, was ihre Möglichkeiten angeht. Die Eltern müssen vieles erkämpfen – und Kinder verlieren dabei wertvolle Gesundheit.
Tanja: Welche besonderen Herausforderungen gibt es beim Pacing im Schulalltag? Worauf kommt es an?
Natascha Kunert-Möller: Pacing ist nach meiner Überzeugung kein „Verzicht“, sondern nachhaltiger Umgang mit begrenzter Energie. Zentral sind: Baseline kennen, kleine Lerneinheiten, Abwechslung, Priorisierung, echte Pausen und flexible Zeiten. Bei instabiler Gesundheit oder zu niedrigem Bellgrad sollte Schule temporär ruhen, um Crashs zu vermeiden. Bildung ist nachholbar, Gesundheit nicht. Bei milderen Verläufen kann Schule funktionieren, wenn sie individuell gedacht wird statt nach Schema F.
Tanja: Ich habe gehört, dass manche betroffene Kinder einen Avatar für den Schulbesuch nutzen. Wie funktioniert das und wie kann ein Avatar das Pacing unterstützen?
Natascha Kunert-Möller: Avatare ermöglichen soziale Teilhabe ohne den Weg zur Schule. Das ist ein echter Gewinn. Aber: Sie ersetzen kein durchdachtes Lernkonzept und kosten kognitiv Energie unter anderem durch Reizfilterung und Konzentration. Als gezielte Ergänzung halte ich sie für wirksam, wenn sie für ausgewählte Stunden und klar gepaced genutzt werden, nicht als „Unterricht wie immer“.
Tanja: Wie oder besser gesagt mit welchen Angeboten unterstützt Du betroffene Familien oder Lehrer/innen?
Natascha Kunert-Möller: Mein Kernangebot ist der Familienkompass: Orientierung, Elternstärkung und konkrete Strategien für Schule, Behörden und Medizin. Dazu kommen Workshops (z. B. Baseline & Pacing, Systemwissen), Beratungen für Eltern und Fachkräfte, Lern- und Verbundenheitsprojekte für Kinder- & Jugendliche sowie Vorträge/ Fortbildungen an Schulen und Organisationen. Das Ziel meiner Arbeit: Entlastung, Klarheit, tragfähige Lösungen.
Tanja: Was wäre dein größter Wunsch für Kinder mit ME/CFS und ihre Familien?
Natascha Kunert-Möller: Anerkennung der Erkrankung und flexible, mutige Einzelfalllösungen statt „Schule um jeden Preis“. Weniger Kampf für Familien, mehr Wissen im System und echte Inklusion, die auch kranke Kinder mitträgt. Erst Gesundheit stabilisieren, dann Bildung – in dieser Reihenfolge.
Beim Lesen von Nataschas Antworten wurde mir einmal mehr bewusst, wie viel Stärke Kinder und Jugendliche mit ME/CFS täglich aufbringen müssen und wie viel leichter ihr Weg wäre, wenn Schule mehr Verständnis und Wissen mitbrächte.
Danke, liebe Natascha, für deine Offenheit und dein Engagement.
Wie sind eure Erfahrungen mit Schule, Ausbildung oder Studium unter ME/CFS-Bedingungen? Teilt sie gern in den Kommentaren, denn jede geteilte Erfahrung macht sichtbar, was sich ändern muss.
Mehr Informationen:
Natascha Kunert-Möller ist ehemalige Lehrerin und Schulleiterin, heute selbst an ME/CFS erkrankt – und Brückenbauerin zwischen Familien und Schule. Sie berät und begleitet Eltern, Fachpersonen und Jugendliche und hilft, Gesundheit zu schützen und schulische Wege realistisch zu gestalten. Ihr Kernangebot ist der Familienkompass; dazu bietet sie Workshops (u. a. Baseline & Pacing, Systemwissen), Lern-/Verbundenheitsprojekte sowie Vorträge und Fortbildungen an. Natascha ist Dozentin an der FH Nordwestschweiz und auf Social Media aktiv. https://www.nataschakunert-moeller.de
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