Energieverschwendung oder Seelenfutter?

Energieverschwendung oder Seelenfutter?
Foto: Rönsch - Zwei Perspektiven

Die Ansichten darüber, ob wir ME/CFS-Betroffenen unsere Energie für manche Aktivitäten verschwenden oder wir manchmal das Überschreiten unserer Grenzen als Seelenfutter brauchen, gehen mitunter ganz schön weit auseinander! Jedenfalls ist das bei meinem Mann und mir so. Und wenn ich anderen genau zuhöre, geht es ihnen wohl genauso.

Um die eine und die andere Seite zu verstehen, braucht es glaube ich einen Perspektiv-Wechsel! Und dafür nehmen wir ein aktuelles Beispiel aus meinem Leben: Es ist Mittwoch Vormittag und ich stelle fest, dass Zitronen, Radieschen, Tomaten, Äpfel und Birnen fehlen. Morgen ist Feiertag, mein Mann beruflich sehr eingespannt und daher beschließe ich, selbst kurz zum Supermarkt im Dorf zu fahren. Im Einkaufskorb gelandet sind zusätzlich zu den dringend benötigten Lebensmitteln noch Schokolade, eine Zeitschrift, Eis und Tiefkühlpizza. Ein Großeinkauf ist für Freitag geplant. Soweit die Situation.

Meine Perspektive:
Ich freue mich so, endlich einmal wieder rauszukommen. Auch wenn ich mir eigentlich für heute einen ruhigen Tag vorgenommen hatte, glaube ich, dass das Risiko wohldosiert und bedacht ist. Während des Einkaufs der benötigten Lebensmittel fällt mir ein, dass ich meine Lieblingszeitschrift mitbringen wollte. Dann sehe ich, dass Schokolade, Pizza und Eis im Angebot sind. Nehme ich gleich mit. Bin ja eh da, ist kein großer Aufwand.

Und es fühlt sich einfach so herrlich normal an, selber einzukaufen. Obst und Gemüse in natura zu sehen und auszuwählen und nicht wie sonst im Online-Shop des Supermarktes in den virtuellen Warenkorb zu legen und von meinem Mann abholen zu lassen. Ich fühle mich nützlich und es ist so schön, mal nicht nur auf dem Sofa zu sitzen sondern etwas „normales“ zu tun und am „richtigen“ Leben teilzuhaben. Danach bin ich zwar platt, aber auch glücklich.

Die Perspektive meines Mannes:
Wieviel Energie die zusätzlichen Lebensmittel schon wieder gekostet haben! Dazu kommt noch das Autofahren, die Menschen, die Geräusche. Nicht zu vergessen, wieviel Energie allein das Aussuchen der einzelnen Lebensmittel und das Tragen gekostet hat. Und wer weiß, was heute noch alles ansteht?! Sie hat doch gesagt, dass sie heute einen ruhigen Tag machen will!? Hoffentlich hat sie sich jetzt nicht überanstrengt und übermorgen kommt dann der Crash. Welche Termine habe ich übermorgen? Kann ich die im Fall der Fälle verschieben, wenn nicht, wer hilft? Und wenn die Verschlechterung dann dauerhaft ist, sie bettlägerig wird, was dann??????…….

Natürlich kann man beide Perspektiven nachvollziehen. Trotzdem sind da auf beiden Seiten viele Verletzungen, das Gefühl nicht wirklich verstanden zu werden. Ich glaube es ist fast unmöglich, jemandem, der nicht betroffen ist, verständlich zu machen, dass an manchen Tagen für uns Betroffene Energieverschwendung zugleich notwendiges Seelenfutter ist. Wir nicht egoistisch sind, sondern auch das Bedürfnis nach ein bisschen Normalität haben. Das Schreckgespenst „dauerhafte Verschlechterung“ einfach mal kurz ausblenden müssen, um nicht zu verzweifeln.

Vielleicht ist es für unsere Lieben, die nicht unter der Krankheit ME/CFS leiden ein wenig nachvollziehbarer, wenn sie sich einmal folgendes Szenario vorstellen: Sie dürfen von jetzt auf gleich keinem Beruf mehr nachgehen, ganz selten und zeitlich begrenzt Freunde treffen, keinen Sport mehr machen, die Freizeitgestaltung nicht mehr nach Lust und Laune planen, Urlaub, Restaurants, Familienfeste sind gestrichen und jede Aktivität steht immer auf dem Prüfstand.

Kurzum: Alles, was Freude macht, alles, womit man sich einmal identifiziert hat, ist bis auf ein paar wenige Krümel zusammengestrichen. Vom Umgang mit den ganzen Symptomen und der immer gegenwärtigen Angst vor einer Verschlechterung mal ganz abgesehen. Und das Ganze nicht nur mal für ein paar Tage, sondern für Jahre oder Jahrzehnte.

Wir versagen uns Tag für Tag so viel. Betreiben Pacing diszipliniert und konsequent. Kann man es uns da – bei allem Verständnis für die Sorgen und Ängste unserer Lieben - wirklich verdenken, dass wir ab und an „über die Stränge schlagen“? Es manchmal für die Seele notwendig ist, unsere Energie für Sachen zu „verschwenden“, die in den Augen anderer unnütz sind?

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