„Ich wollte Dich nicht stören“ - Wenn Nähe an Unsicherheit scheitert
Mein letzter Beitrag „Warum ein Päckchen Pudding mich zu Tränen rührte“ hat etwas ausgelöst. In mir und bei anderen. Kurz nach der Veröffentlichung bekam ich mehrere Nachrichten.
Larissa schrieb:
„Fühl dich gedrückt, liebe Tanja“
Jessica, unsere neue Nachbarin, schrieb:
„Wenn du dich mal einsam fühlst oder einfach mal einen Kaffee trinken magst – ich bin gleich nebenan...“
Und dann war da noch eine Nachricht, die mich besonders tief berührte.
Anke schrieb:
„Liebe Tanja! Ich habe dich nicht vergessen! Ich denke sehr häufig an dich: Bei meinen Spaziergängen unserer alten "Hunde-Runde", wenn Einladungen für einen "Freundinnenabend" eintreffen... Wenn ich mir wünsche, dass du genau jetzt anrufst!… wenn ich meine FREUNDIN vermisse. Der Impuls, dich dann zu kontaktieren, wird durch die Furcht gedeckelt, dich zu stören, zu überfordern, dir nicht gut zu tun… Danke für deinen "Hilferuf"!...“
Diese Zeichen haben so gutgetan und gleichzeitig hat mich vor allem Ankes Nachricht sehr nachdenklich gemacht. Gerade den Satz „Der Impuls, dich dann zu kontaktieren, wird durch die Furcht gedeckelt, dich zu stören, zu überfordern, dir nicht gut zu tun“ musste ich mehrmals lesen. Weil er so ehrlich war. Und weil er mir zeigte, dass Schweigen manchmal kein Desinteresse ist, sondern Fürsorge, die sich nicht traut.
Zwischen Nähe und Rücksicht
Seit ME/CFS mein Leben verändert hat, ist der Kontakt zur Außenwelt ein sensibles Gleichgewicht geworden. Zwischen Nähe und Rückzug, zwischen Sehnsucht und Überforderung. Ich weiß, wie schwer es für andere ist, einzuschätzen, was „guttun“ für mich bedeutet. Manchmal bedeutet es Ruhe. Manchmal ein paar Zeilen oder Worte am Telefon. Und manchmal einfach ein kurzer Moment, der zeigt: Ich bin da.
Ich sehe die Unsicherheit meiner Freundinnen und ich verstehe sie.
Das Zögern, das Abwägen:
„Soll ich schreiben oder lieber warten?“
„Will sie gerade Ruhe oder freut sie sich über ein Lebenszeichen?“
Diese Gedanken sind nicht Distanz. Sie sind Zuneigung, die leise geworden ist.
Wenn Stille lauter wird
Und doch: Je länger diese Stille dauert, desto lauter wird sie. Sie füllt den Raum zwischen uns mit Fragen, Vermutungen, Missverständnissen.
Vielleicht denkt die andere: Wenn Tanja sich nicht meldet, geht es ihr schlecht.
Und ich denke: Sie meldet sich bestimmt nicht, weil sie mich vergessen hat.
So entsteht eine Leere, die niemand beabsichtigt und die trotzdem weh tut.
Ich vermisse die Unbefangenheit von früher, dieses spontane „Ich ruf mal eben an“, das heute für mich kaum noch möglich ist. Oft schiebe ich es wochenlang vor mir her, mich zu melden. Warte auf den Moment, an dem ein Quäntchen mehr Energie da ist, damit ich mehr als zehn Minuten durchhalte. Damit ich nicht auf „neutrale Emotion“ achten muss, sondern frei erzählen kann. Über das, was traurig ist, was Angst macht oder was mich berührt. Doch manchmal vergeht die Zeit, ohne dass dieser Moment kommt.
Mein stiller Rückzug
Und gleichzeitig weiß ich: Meine Grenzen sind brutal und real. Ein zu langes oder zu emotionales Gespräch kann mich tagelange Schmerzen kosten. Manchmal reichen ein paar Minuten „zuviel“, und mein Körper klappt zusammen wie nach einem Marathon.
Vielleicht habe auch ich mich dadurch still zurückgezogen, nicht bewusst, aber schleichend. Ich wollte niemandem das Gefühl geben, auf Zehenspitzen mit mir sprechen zu müssen. Und manchmal war es einfacher, gar nichts zu sagen, als ständig erklären zu müssen, warum so wenig möglich ist. Doch genau dieses Schweigen schafft die Leere, die ich so schmerzlich spüre.
Zwischen den Zeilen
Was mir Ankes Nachricht gezeigt hat: Die Verbindung ist da. Nur anders.
Sie lebt in Gedanken, in Erinnerungen, in dieser vorsichtigen Liebe, die nicht überfordert, sondern aushält. Und sie lebt in Gesten wie Brigittes Päckchen, einem kurzen „Du bist nicht allein“ oder in einem Herzchen-Emoji.
Und sie hat mir bewusst gemacht: Nähe braucht Mut – auf beiden Seiten. Auch ich darf mir erlauben, neue Wege der Verbindung zu finden. Es muss nicht immer das Telefonat sein. Auch ich darf kleine Zeichen senden - ein kurzes „Ich habe an dich gedacht“, ein „Mir fehlt unsere Zeit, aber heute fehlt mir die Kraft zum Reden“. Vielleicht sind genau das die Brücken, die zwischen unseren Welten tragen: zart, ehrlich, leise und trotzdem eine Verbindung.
Schlussgedanke
Ich wünsche mir, dass wir darüber sprechen dürfen. Über diese Unsicherheiten, die beide Seiten spüren. Dass Freundschaft nicht an Grenzen scheitert, sondern mit ihnen wächst. Dass wir uns trauen, leise Zeichen zu setzen, ohne Angst, zu viel oder zu wenig zu sein. Schweigen kann Fürsorge sein. Aber manchmal ist genau das kleine Lebenszeichen die größte Rücksicht.
Vielleicht müssen wir beide – die mit der Krankheit und die ohne – neu lernen, was Nähe bedeutet. Nicht laut, nicht oft, aber ehrlich. Und vielleicht beginnt sie genau da, wo jemand trotz aller Unsicherheit schreibt:
„Ich wollte dich nicht stören – aber ich wollte dich wissen lassen, dass ich da bin.“
Vielleicht kennst du solche Momente auch – dieses Zögern, jemanden zu kontaktieren, aus Angst, zu viel zu sein. Oder du lebst mit einer chronischen Erkrankung und merkst, wie still es um dich geworden ist. Mich würde interessieren: Wie erlebst du Nähe, wenn sie anders geworden ist?
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