Weihnachten zwischen Nähe und Grenzen

Weihnachten zwischen Nähe und Grenzen
Photo by Markus Spiske / Unsplash

Früher bedeutete Weihnachten für mich Glanz, Düfte und vertraute Rituale. Es stand für den Duft von zig Sorten selbst gebackener Plätzchen. Für ein Zuhause, in dem jedes Zimmer ein kleines bisschen weihnachtliche Magie ausstrahlte und für sorgfältig ausgesuchte Geschenke, die ich liebevoll verpackte. Es stand für selbstgemachte Last-Minute-Geschenke, für die Vorfreude auf den Familienbesuch an Heiligabend, für ein festliches Essen und das gemeinsame Schmücken des Baumes.

Heute hat Weihnachten für mich eine andere Schattierung. Nicht unromantisch, nicht traurig, aber anders. Anders, seit ME/CFS meinen Alltag bestimmt. Anders, weil ich bei entfernten Familienfeiern schon lange nicht mehr dabei sein kann und den 1. und den 2. Weihnachtsfeiertag allein zu Hause verbringe. Anders, weil ich gelernt habe, dass es nicht nur um Liebe geht, sondern auch um Grenzen. Und anders, weil ich den Zauber von Weihnachten nur noch für wenige Minuten in den Augen meiner Enkelkinder sehen darf.

Dieses Weihnachten fühlt sich anders an

In den meisten Situationen kann ich das inzwischen mehr oder weniger gut akzeptieren. Ich habe gelernt, mich zurückzunehmen, die Bedürfnisse meines Körpers zu respektieren und zu verzichten. Ich habe gelernt, wie wichtig es ist, realistisch zu sein und mich nicht zu überfordern. Aber dieses Weihnachten fühlt es sich anders an. Dieses Weihnachten konfrontiert mich mit einem alten Gefühl: dem Wunsch, „trotzdem“ zu können. Dem Wunsch, für andere da zu sein, wenn sie mich brauchen. Dem Wunsch, nicht der Faktor zu sein, der Pläne schwieriger macht.

Dieses Jahr gibt es in unserer Familie einen Todesfall, der kurz vor Weihnachten alles durcheinanderwirbelt. Nicht als etwas, das ich groß ausbreiten möchte, aber als etwas, das dennoch präsent ist. Und ich kann den Gedanken, dass deshalb nun jemand allein bleibt, schwer ignorieren. Normalerweise würde ich ohne Zögern sagen „Komm zu uns!“. Ich würde helfen, ein Bett beziehen, ein zusätzliches Gedeck am Tisch auflegen, Wärme und Gemeinschaft anbieten. Ein bisschen von dem, was Weihnachten so besonders macht. Dieser Impuls ist nach wie vor da. Vielleicht sogar stärker denn je.

Wo endet Hilfsbereitschaft, wo beginnt Selbstschutz?

Und gleichzeitig weiß ich, dass genau das für mich eine riesige Belastung wäre. Nicht wegen der Person selbst, nicht wegen ihrer Art oder ihres Wesens. Sondern allein wegen der zusätzlichen Reize, die ein weiterer Mensch bedeutet. Reize, die ich nicht mehr filtern kann. Reize, die meinen Alltag fragil machen. Es bedeutet permanente Wachsamkeit meines Nervensystems, das ohnehin schon im Ausnahmezustand arbeitet. Es ist ein sehr belastendes Gefühl, wenn man helfen möchte und gleichzeitig weiß, dass diese Hilfe den eigenen Körper in einen Zustand bringen könnte, von dem man sich nur langsam oder gar nicht mehr erholt.

Ich ringe seit Tagen mit diesem Dilemma: Wo endet Hilfsbereitschaft, wo beginnt Selbstschutz? Ist es falsch, etwas nicht leisten zu können, was früher selbstverständlich gewesen wäre? Macht es mich weniger liebenswert, wenn ich meine Tür nicht öffnen kann, obwohl mein Herz es gern täte? Oder ist es vielleicht sogar eine Form von erwachsener Verantwortung, die eigenen Grenzen ernst zu nehmen - gerade dann, wenn die Emotionen laut werden? Genau dieses Fragen zeigen meine Zwickmühle und ich fürchte, dass am Ende niemand wirklich gewinnen kann.

Nähe heißt auch, ehrlich zu sich selbst zu sein

Vielleicht ist Weihnachten für Menschen mit chronischen Erkrankungen deshalb so kompliziert. Es ist das Fest der Nähe, aber Nähe hat viele Formen. Manchmal ist sie ein Raum voller Menschen. Manchmal ein Anruf. Manchmal ein stilles Zeichen der Verbundenheit. Und manchmal besteht sie darin, ehrlich zu sich selbst zu sein und zu sagen: „Ich wäre gerne da, aber ich kann nicht. Und das bedeutet nicht, dass ich weniger fühle.“

Dieses Weihnachten wird anders sein. Es wird kleiner, leiser, vielleicht auch brüchiger. Aber vielleicht liegt darin eine neue Art von Echtheit: die Erkenntnis, dass Liebe nicht immer in Aktionen gemessen wird, sondern im Mitfühlen. Und dass man für andere und für sich selbst da sein darf. Auch wenn beides an Weihnachten manchmal schwer und manchmal sogar überhaupt nicht zu vereinbaren ist.

Ich wünsche Euch von Herzen ein Weihnachten, das zu Euerer aktuellen Kraft passt. Nicht perfekt. Nur ehrlich, warm und gut genug.

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