Meine Geschichte

Meine Geschichte
Foto: Rönsch

Hi, ich bin Tanja, 54 Jahre und ich habe die Diagnose ME/CFS - neben einigen weiteren Diagnosen - seit März 2022.

Was das ist? ME/CFS (Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue Syndrom) ist laut der Deutschen Gesellschaft für ME/CFS „eine schwere neuroimmunologische Multisystemerkrankung, die oft zu einem hohen Grad körperlicher Behinderung führt.“ (hier klicken für mehr Einzelheiten)

Schon früher habe ich immer mal wieder gemerkt, dass ich nicht mehr so leistungsfähig bin, wie vorher. Zudem hatte ich mit starken Schwindelanfällen zu kämpfen und bin von Arzt zu Arzt gerannt. Trotzdem waren rückblickend zu der Zeit noch so viele Dinge möglich, die inzwischen undenkbar sind.

Covid verschlechterte die Situation und zeigte die Realität
2 Tage nach der ersten Covid-Impfung im Juni 2021 ging es mir dann zunehmend schlechter. Zuerst war es ein Grippe-Gefühl und bleierne Müdigkeit und ich ließ mich im Juli das zweite Mal impfen. Danach kam zu den vorherigen Symptomen eine vergrößerte Milz und vergrößerte und schmerzende Lymphknoten dazu, so dass ich 5 Wochen nur liegen durfte. Im September waren mein Mann und ich dann für 3 Wochen in Barcelona. Dort habe ich gemerkt, dass ich immer weniger leistungsfähig war, ein kurzer Spaziergang schon zu viel war. Trotzdem habe ich versucht, mich weiter auf meine Heilpraktiker-Prüfung vorzubereiten. Aber das Lernen fiel mir immer schwerer. Ich konnte mir einfach nichts mehr merken und war nach spätestens einer Stunde so erschöpft, wie nach einem vollen Arbeitstag.

Ende Dezember 2021 habe ich mich dann trotz Impfung mit Covid angesteckt. Zuerst dachte ich noch, dass die Infektion doch nicht, wie befürchtet, meinen Zustand verschlechtert. Doch nach ungefähr 3 Wochen wurde ich eines besseren belehrt: Mein Zustand verschlechterte sich ziemlich drastisch und ich wurde erst mit Long-Covid und dann im März 2022 mit ME/CFS diagnostiziert. Seitdem ist nichts mehr, wie es war. 

Wie man sich vorstellen kann, habe ich seit der Diagnose viele Therapien, Medikamente, Nahrungsergänzungsmittel etc. ausprobiert. Natürlich auch die derzeit (April 2024) wichtigste Therapiemöglichkeit, das Pacing. Was Pacing ist, wie ich es in mein Leben eingebunden habe und was Pacing für mich im tagtäglichen Leben bedeutet, davon erzähle ich in meinem Blog.

Da ich in Bezug auf Pacing schon länger unterwegs bin, möchte ich Euch meinen bisherigen Weg natürlich auch nicht vorenthalten:


Der lange Weg zu meinem idealen Pacing

Da dies ein sehr langer Beitrag geworden ist, habe ich ihn zusätzlich als Audio aufgenommen, damit es einfacher für all diejenigen unter Euch ist, denen das Lesen langer Texte schwer fällt.

Als ich vor gut 2 Jahren die Diagnose ME/CFS bekam und mir der Arzt mitteilte, dass es derzeit keine kurative Therapie, nur Medikamente zur Symptombekämpfung sowie Pacing gibt, war das erstmal ein Schock! Gibt es sowas heutzutage wirklich noch? Eine Erkrankung, die nur unzureichend erforscht ist und für die es keine kurative Therapie gibt? Und von Pacing hatte ich in Zusammenhang mit ME/CFS noch nie gehört. Ich recherchierte also im Internet nach Beiträgen zum Thema Pacing und war richtig enttäuscht, als ich fast nichts gefunden habe.

Damals versuchte ich mich zunächst mit Hilfe einer englischen Pacing-Anleitung von der Open Medicine Fundation in das Thema einzuarbeiten. Was aber mit dem Brainfog extrem schwierig war. Aber nach einigen Wochen hatte ich mich durch die Anleitung gearbeitet und in der Zwischenzeit auch ein Buch zum Thema Pacing gefunden, in dem die „Löffeltheorie“ erklärt wurde.

Nachdem ich die Theorie des Pacing glaubte verstanden zu haben, schrieb ich mir für ca. 6 Monate jeden Tag eine Menge Daten auf: Alle Symptome, Wetter, Mondphase, Schlaf, Körpertemperatur, Bodybatterie der Smartwatch, gefühlter Energielevel, Anzahl Löffel und alle Aktivitäten des Tages inklusive Bewertung des Grades der Anstrengung. Ziel dieser Datensammlung: Ich hatte gehofft, damit eine Art Muster zu erkennen.

So nach dem Motto: Wenn es zu einer Verschlechterung kommt, brauche ich nur noch zu sehen, was vor 2 Tagen gewesen ist, Aktivitäten entsprechend anzupassen und fertig. Was soll ich sagen? Mit dem, was ich heute weiß, konnte das gar nicht so klappen, weil eben neben „normaler“ PEM nach 12-72 Stunden es auch noch möglich ist, dass sich kleinere Überanstrengungen sozusagen stapeln und PEM erst nach ein paar Wochen des „Übertreibens“ auftritt. Zudem reagiert der Körper jeden Tag anders auf äußere Einflüsse. Diese Art des Pacings funktionierte also nicht so, wie ich mir das vorgestellt hatte. Das hat mich richtig frustriert! Scheint so, als ob Pacing doch nicht so easy ist, wie gedacht.

Auch die Aussage: „Mache an einem guten Tag nur so viel, wie Du an einem schlechten Tag kannst“ fand ich nicht wirklich praktikabel. Denn damals glaubte ich noch, ich dürfe dann nur so viel tun, wie in einem Crash. Und da tat ich ja doch gar nichts mehr und lag nur mit Schmerzen im Bett?! Wie soll denn das funktionieren???? Mehr und mehr hatte ich das Gefühl, das kapierst Du nie!

Dann hat mein Mann ein Konzept weiterentwickelt, bei dem ich täglich alle Aktivitäten (kognitiv, physisch, emotional) nach Dauer und dem Grad der Anstrengung aufschreibe und bewerte. Dabei war damals mein „Neutralwert“ (keine Anstrengung/kein Energieaufbau) Fernsehen schauen. Also zum Beispiel Duschen ist 4x so anstrengend für mich, wie Fernsehen. Zudem schrieb ich wieder die Symptome und zusätzlich die Stresswerte laut meiner Smartwatch auf. Dann wurden die Aktivitäten mit der Dauer in Minuten versehen und mit dem Grad der Anstrengung multipliziert: 10 Minuten Duschen = 40 Minuten Aktivität. Aktivitäten wie Pause mit Kopfhörern und Schlafbrille wurden einfach
gezählt und als Energieaufbau bewertet.   

Während des Tages habe ich in den nächsten Monaten dann alles handschriftlich in ein ausgedrucktes Formular eingetragen. Die eigentliche Auswertung war für mich natürlich nicht zu schaffen und wurde von meinem Mann erstellt. Allerdings aufgrund des doch ziemlich hohen Zeitaufwandes meist nur einmal in der Woche, wenn er am Wochenende alles in eine Excel-Tabelle übertragen und analysiert hat. Diese Analyse hat dann für mich meinen Basiswert ergeben: Der für mich ideale Unterschied zwischen Anstrengung und Energieaufbau waren zu dem Zeitpunkt maximal 300 Minuten pro Tag. Wenn ich das einhielt, kam es zu weniger PEM.

Diese Art des Aktivitätstrackings war allerdings nur alltagstauglich, wenn man in der Lage ist, die Daten im Laufe des Tages selbst in die Excel-Tabelle einzutragen, zusammen mit den Werten der Vortage zu analysieren und damit den Ist-Wert zu ermitteln. Denn erst am Ende der Woche zu wissen, dass man am Dienstag zu viel gemacht und am Mittwoch und Donnerstag hätte Pause machen müssen, war natürlich nicht so sinnvoll. Trotzdem war die Arbeit nicht umsonst, denn es hat mir doch ein Gefühl dafür gegeben, wieviel Aktivität möglich ist. Vor allem aber wie langsam sich Stress abbaut und wie lange es dauert, ein kleines bisschen Energie aufzubauen.

Die 300 Minuten, die sich aus der Analyse ergaben, waren eine ungefähre Baseline für mich. Natürlich ist so eine Minutenzahl nicht für immer in Stein gemeißelt! Durch Faktoren wie Wetter, emotionale Begebenheiten Verbesserung/ Verschlechterung des Zustands und ähnliches muss ich auch heute noch meine Baseline jeden Tag neu bewerten und gegebenenfalls anpassen.

Durch verschiedene Übungen aus den Bereichen Somatic Experiencing, Jin Shin Jyutsu und Cranio-Sakral-Therapie habe ich mir inzwischen ein recht gutes Körpergefühl erarbeitet. Das gibt mir die Möglichkeit, sehr früh Warnsignale meines Körper wahrzunehmen und entsprechend zu reagieren. Ich habe mir eine Tabelle mit meinen Warnzeichen in den Bereichen emotionale, körperliche und kognitive Anstrengungen erarbeitet. Dabei hat sich zum Beispiel herauskristallisiert, dass das erste Warnzeichen einer körperlichen Überanstrengung bei mir das Ziehen in den Unterarmen ist. Oder ich
als erstes Warnzeichen kognitiver Überanstrengung ständig gähnen muss.

Mit einer Aktivität aufzuhören, bevor Symptome mir die Überanstrengung signalisieren, schaffe ich aber trotzdem bis heute nicht immer. Was sich verändert hat, ist die „Lautstärke“, mit der sich mein Körper meldet: Wenn ich sehr aufmerksam bin – und das ist inzwischen sehr häufig der Fall - nehme ich schon das erste „Flüstern“ (bei mir z.B. Abschweifen in einem Gespräch) wahr. Aber manchmal muss mein Körper auch heute noch den Wink mit dem Scheunentor (z.B. Wortfindungsstörungen im Gespräch) rausholen, um mich zu stoppen.

Eine der wichtigsten Erkenntnisse aus all den Analysen und Symptomtrackings ist für mich diese: Ohne qualitative Pausen kann ich pacen so viel ich will, denn dann kommt mein Körper nicht wirklich zur Ruhe und ist ständig „auf Empfang“. Inzwischen ist es auch bei mir angekommen, dass Fernsehen sehr wohl eine nicht unerhebliche (kognitive) Anstrengung ist😉. Daher schaue ich nur
noch ausgewählte Sendungen und mache mehr qualitative Pausen. Und das heißt für mich heute: Kopfhörer auf und Blick ins Grüne oder Augen zu und leise
meditative Musik hören. Und das am besten nach jeder Aktivität – was ich aber
auch selten schaffe. Aber zumindest 2-3 solcher 10–60-minütiger Pausen lege ich
jeden Tag ein.

Eine weitere wichtige Erkenntnis ist, dass Emotionen mir doppelt oder dreifach so viel Energie ziehen, wie eine physische Aktivität. Und das muss ich immer im Hinterkopf haben.

Heute ist auch die Aussage nur so viel zu tun, wie ich an einem schlechten Tag schaffe, sehr hilfreich für mich! Denn heute steht für mich ein schlechter Tag nicht mehr für Crash, sondern für einen Tag, an dem ich nicht weniger Energie habe als üblich, vielleicht aber schlecht geschlafen oder Kopfschmerzen habe.

Für mich ist inzwischen sehr deutlich geworden: Pacing ist nichts, was man einmal lernt und das bleibt dann genau so. Nein, Pacing ist ein ständiger Prozess! Der Körper verändert sich, das Umfeld, das Wetter, die Temperatur, die emotionale Lage und und und. Wie ein Kapitän auf hoher See, müssen auch wir alle unsere Parameter ständig im Blick haben, sie justieren und anpassen. Aber es ist vielleicht auch eine Chance, sich selbst und seinen Körper noch einmal neu kennen und wertschätzen zu lernen.